Auszug Katalogtext
Prof. Wolfgang Ullrich

„DIE ROS IST OHN WARUM“

Annette Schröters autonome Kunst

Annette Schröter - Rosenlaube

»ROSENLAUBE« 2018 Papierschnitt, zweiteilig 280 x 290 cm

Dass Annette Schröter für ihre Ausstellung im Kunstkabinett Tiefenthal Gemälde und Scherenschnitte ausgewählt hat, die sich alle mit dem Sujet der Rose befassen, verführt gleich doppelt dazu, den dänischen Märchenerzähler Hans Christian Andersen ins Spiel zu bringen. Als große Doppelbegabung schuf nämlich auch er zahlreiche, oft aufwendige, ebenso phantasievolle wie virtuose Scherenschnitte; zudem hinterließ er einige Märchen, die von Rosen handeln. Eines trägt den Titel „Die Schnecke und der Rosenstock“, und in ihm bekommt die Schnecke eine ziemlich unsympathische Rolle zugewiesen. Wiederholt mäkelt sie an dem Rosenstock herum, der im selben Garten wächst, in dem sie ihr Revier hat. „Der Rosenstock bleibt bei den Rosen, weiter kommt er nicht“, macht sie sich lustig, da gebe es doch „gar keinen Fortschritt“. Aber so sehr der Rosenstock seine Bestimmung darin hat, immer neu auszutreiben, so sehr genießt er es auch, anderen mit seinen Blüten eine Freude zu bereiten. Gegen Ende seines Lebens erinnert er sich, was für eine große Bedeutung einzelne seiner Rosen für Menschen hatten. Zwar vermag er auf die kritische Frage der Schnecke, weshalb er blühe „und wie der Hergang beim Blühen ist; warum so und nicht anders“, keine Antwort zu geben, aber immerhin verkündet er: „Ich blühe in Freude, weil ich nicht anders konnte.“ Damit erscheint Andersens Märchen wie das Echo eines berühmten Verses des Mystikers Angelus Silesius. Im Jahr 1657, heißt es bei ihm in „Der Cherubinische Wandersmann“ (Nr. 289): „Die Ros ist ohn warum; sie blühet, weil sie blühet.“ Ihr Blühen bedarf keiner Herleitung oder Begründung, es genügt sich selbst, ist also nicht von einer externen Rechtfertigung abhängig. Die Rose als besonders schönes Stück Natur wird zur Metapher für die Kunst: Beides entsteht, einfach weil es entsteht, auch unabhängig davon, ob es ein Publikum dafür gibt oder was dieses sich vielleicht wünscht. Noch so viele Schnecken und Mäkler mögen unzufrieden sein und immer noch mehr und noch anderes verlangen, doch der besondere Reiz einer Rose sowie eines Kunstwerks besteht gerade darin, sich nicht nach fremden Erwartungen zu richten und sich nicht anzudienen. (…)


„Die Metamorphose der Tiefenthaler Rose“, 2018,
M1 – M8, Papierschnitte 30x30cm

 

Diesen Geist autonomer Kunst bringen Annette Schröters Rosenbilder eindringlich zur Geltung. In ihren Scherenschnitten entwickelt sich eine Form aus der anderen, alles wächst und wuchert und nimmt dabei zum Teil Dimensionen an, die die Größe jedes Menschen übersteigen. So hat „Rosenlaube“ (2018) eine Höhe von fast zweieinhalb Metern und erstreckt sich über zwei Wände. Bänke und Gitter, also zweckgebundene Artefakte, werden von der Natur ganz selbstverständlich in Besitz genommen, obenauf brechen einige Rosen das Schwarz-Weiß des sonstigen Scherenschnitts (wie sonst nur noch eine grüne Wiese im unteren Teil) mit kräftig leuchtenden Farben. Das wirkt, als würde die Autonomie – das Blühen um seiner selbst willen – über alles andere triumphieren, nicht zuletzt über Batman-Mützen, die auf den Bänken liegen und die – genau wie die Schnecke in Andersens Märchen – für ein ganz anderes Prinzip stehen. Batman ist zwar viel aktiver und engagierter als jene Schnecke, aber genauso überzeugt davon, dass die Welt an sich schlecht ist, und genauso voller Unverständnis über ein Leben, in dem nichts aus Überzeugung und Berechnung, sondern alles aus sich selbst heraus geschieht. (…) Annettes Schröters Werke sind autonom genug, um auch dem Betrachter zu mehr Autonomie zu verhelfen.